Humanist, Arzt, Aufklärer
Wer sich mit Homöopathie beschäftigt, kennt auch den Namen ihres Gründungsvaters: Samuel Hahnemann. Doch wer war der Mensch Christian Friedrich Samuel Hahnemann? Was trieb ihn an? Woher hatte er sein enormes philosophisches und medizinisches Wissen? Was war der Quell seiner Vitalität, die ihn 88 Jahre lang bei völliger geistiger und körperlicher Gesundheit arbeiten und forschen ließ?
Samuel Hahnemann war ein äußerst begabter junger Mann gewesen, der die Fürstenschule St. Afra in Meißen besuchen durfte, obwohl seine Familie das Schulgeld nicht aufbringen konnte. Ein Stipendium machte es möglich und verlangte gleichzeitig Mehrarbeit von Samuel, dem Hochbegabten. So half er seinem Lehrer beim Korrigieren der Arbeiten seiner Mitschüler und verinnerlichte dabei das Credo der Schule: Sapere Aude – Wage es, weise zu sein. Dieses für Hahnemann zeitlebens so wichtige lateinische Wort stammt ursprünglich von Horaz und fand Eingang in die vernunftbetonte Erziehung des 18. Jahrhunderts durch die Philosophie von Leibniz und Wolff.
Samuel Hahnemanns Jugend ist zugleich die Blütezeit der Aufklärung. Ein neuer Erziehungsstil ganz im Rousseauschen Sinne zieht in die gebildeten Häuser ein und verlangt von den Heranwachsenden Abhärtung und den Gebrauch des eigenen Verstandes. Samuels Vater, selbst kein Gelehrter, sondern Porzellanmaler in Meißen, erzieht seinen Sohn in diesem Sinne. Bereits Legende ist es, dass der Vater ihn stundenlang in eine dunkle Kammer sperrte, damit Samuel das Denken übte. Doch nicht mit Groll, sondern mit Achtung und Dankbarkeit spricht Samuel Hahnemann später über seinen Vater.
Die Erziehung zur Vernunft lässt ihn während seines Studiums an der Medizin seiner Zeit zweifeln. Zu widersprüchlich sind die damals gelehrten Theorien der Humoralpathologie, zu unberechenbar die Heilerfolge und zu offensichtlich der Schaden, den die giftigen Rezepturen bei den Patienten anrichteten. Die erste öffentliche Forderung des jungen Arztes Samuel Hahnemann sind neben einer therapeutischen Zurückhaltung vor allem Maßnahmen zur Prävention und Gesunderhaltung von Körper und Geist. In der 1792 -95 erschienenen Aufsatzsammlung „Freund der Gesundheit“ beschreibt Hahnemann eine maßvolle Diät mit vielen „Vegetabilien“ und regelmäßige Leibesübungen sowie kalte Waschungen als gesundheitsfördernde Maßnahmen. Auch die Vorteile frischer Landluft im Gegensatz zu den vom Kohlerauch verpesteten Städten werden von ihm genannt. Auch weiß er um die gesundheitsfördernde Kraft eines zufriedenen Gemüts. Bereits 1784 schreibt Hahnemann: „Die Zahl der Ältesten im Lande ist zugleich die Zahl der Zufriedensten im Volke, Gram hingegen ist der gewisseste Selbstmord.“
Ganz ähnlich lesen sich die Empfehlungen, die Christoph Wilhelm Hufeland wenig später in seinem noch heute beachtetem Werk „Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern“, beschreibt. Auch Hufeland geht es um Disziplin in Körperertüchtigung und Diät sowie das rechte Maß in Genuss und Pflichterfüllung. Beide Ärzte achten einander und Hufeland zeigt sich zunächst auch offen für Hahnemanns Theorie einer neuen Art, Arzneimittel anzuwenden: der Homöopathie. Im später „Hufeland Journal“ genannten Periodikum des Jenaer Professors darf Hahnemann seine ersten homöopathischen Schriften veröffentlichen.
Hufeland schätzt Hahnemanns innovativen Geist und befürwortet eine Bereicherung der Medizin durch einzelne Ansätze der Homöopathie. Hahnemann hat jedoch längst erkannt, dass seine Homöopathie nur als Ganzes, nur als komplexes System Erfolg haben kann und wird sich später enttäuscht von allen „Halbhomöopathen“ der 1820er und 1830er Jahre abwenden; so auch von Hufeland, den er nie ganz für seine Idee gewinnen kann.
Hahnemann will eine Medizin nach dem Vorbild der Mathematik: eine echte Wissenschaft, die exakt kalkulierbar zu heilen vermag. Er kennt Immanuel Kant und dessen Werk „Kritik der reinen Vernunft“. Kant hat einen Zusammengang von Denken und Erfahrung als Schlüssel zur Wissenschaft der Zukunft gefordert.
Nach keinem geringeren Maßstab als diesem Wissenschaftsideal der Aufklärung erschafft Hahnemann das homöopathische System der Arzneimitteltherapie. Auf dem Weg des Denkens hat er aus seiner Erfahrung die Gesetze der Homöopathie abstrahiert: Weil die jedem lebenden Individuum innewohnende Kraft auf einen einwirkenden Reiz stets mit einer Gegenwirkung antwortet, kann Heilung durch eine spezifische Reiz-Stimulation herbeigeführt werden. Die Arzneimittelauswahl erfolgt nun nach der Ähnlichkeit: was spezifische (Vergiftungs-) Symptome erregt hat, wird ähnliche Krankheitssymptome heilen können.
In dem Vorgehen der Homöopathie, die Kenntnis der Arzneimittel durch ihre Überprüfung am Gesunden auszumitteln, findet er die Methode, zu einer Gewissheit der Heilwirkung a priori zu gelangen.
Mit 31 Jahren hat der junge Arzt Samuel Hahnemann Idee und Gesetze der Homöopathie erstmalig veröffentlicht. Er findet wenig Gehör. Auch nachfolgende Publikationen erreichen nicht die erhoffte Resonanz. Doch Hahnemann bleibt noch fast ein halbes Jahrhundert Lebenszeit, um seine Homöopathie der dankbaren Nachwelt zu übergeben.
Dabei geht er seinen Weg unbeirrt und manchmal mit sturem Eigensinn. Er ist überzeugt, dass ihm Kraft der Vernunft eine Erkenntnis zuteil geworden war, die dem „ganzen Menschengeschlecht“ Nutzen würde. Für Hahnemann ist Gott ein gütiger Schöpfer einer unperfekten Welt, in der besonders der Mensch in seiner Physis dem Tier gegenüber im Nachteil ist. Doch der Mensch hat zum Ausgleich die Vernunft erhalten. Auf dem Weg des Denkens kann der Mensch sich Abhilfe verschaffen. So versteht Hahnemann auch die Krankheiten des Menschen, besonders die Chronischen, als Prüfungen, die der vernünftige Mensch zu bestehen hat. Er ist fest von der Heilbarkeit nahezu jeder Krankheit überzeugt; es liegt lediglich in der Fähigkeit des Arztes, dies zu leisten. Im Streben nach Perfektion bei der homöopathischen Heilung ist Hahnemann ein unermüdlicher Arbeiter und ein strenger Lehrer für seine Schüler, die ihn bei den Arzneimittelprüfungen unterstützen.
Obwohl er in der Homöopathie seinen persönlichen „Stein der Weisen“ längst gefunden hat, arbeitet der überzeugte Freimaurer Hahnemann weiter an der Vervollkommnung seiner Lehre. Insgesamt sechs jeweils neu überarbeitete Versionen des „Organon“ erscheinen – es soll das Handwerkszeug des Homöopathen sein und ist tatsächlich die Grundlagenliteratur bis heute.
Im Jahre 1819 erscheint die erste überarbeitete Version von Hahnemanns „Organon der Heilkunst“. Im Untertitel erscheint nun das Horaz-Wort in umgekehrter Wortfolge: Aude sapere!. Wollte Hahnemann das Wagnis noch betonen, als er in seiner Variante den Imperativ "aude" voranstellte? Immanuel Kants Übersetzung des Sapere Aude als: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ liegt bereits über 30 Jahre zurück. In der Welt der Wissenschaft und Kunst hat ein Epochenwechsel stattgefunden; es herrscht nun die „Romantik“ in den deutschen Fürstentümern. Wo Kant viele Fragen aufgeworfen hatte, hat Schellings Naturphilosophie viele Antworten gegeben. Und noch immer ist die Homöopathie nur eine Randerscheinung in der Welt der Medizin. Wenn Hahnemann nun also das alte Sapere Aude zitiert, scheint es, als will er noch einmal den Geist der Aufklärung beschwören und in die Welt rufen: Habt den Mut, zu erkennen, dass die Medizin noch ganz am Anfang steht, noch einmal ganz von vorn anfangen muss!
Antje Langer, Redaktioneller Beitrag für den „Nordstern“ 12/2011